Von Dr. med. Cirsten Verleger, Certified Advanced Rolfer® und Rolf Movement™ Practitioner, Dortmund
Beleben Sie Ihre natürliche Fähigkeit, mühelos aufrecht zu sitzen, und beugen Sie Nacken- und Rückenschmerzen vor
Es ist fast zu schön, um wahr zu sein: Mühelos und aufrecht durch das Leben zu gehen und auch entspannt zu sitzen, entspricht unserem eigentlichen Wesen. Warum viele Menschen das anders erleben und wie Sie diese Fähigkeit für sich neu aktivieren können, erfahren Sie in diesem Text.
Probieren Sie einmal Folgendes aus:
Legen Sie Ihre linke Hand unter Ihre linke Gesäßhälfte, und zwar unter den Sitzbeinhöcker, den Sie dort deutlich spüren werden. … Nach etwa 20-30 Sekunden ziehen Sie die Hand wieder hervor. Dann spüren Sie nach. – Wie fühlt sich nun die linke Seite im Vergleich zur rechten an? Ganz anders? Vielleicht entspannter? Dabei haben wir nicht viel getan. Weiter unten finden Sie noch einige andere Experimente, doch zunächst schauen wir uns an, wie unser Körper funktioniert und wie wir dieses Wissen für mehr Mühelosigkeit nutzen können.
Die Schwerkraft ist Ihre Freundin
Unser Körper sucht nicht die vollständige „Entspannung“. Der Grund: Wir sind keine „Steinmännchen“, bei denen die oberen Steine die unteren zusammenpressen. Stattdessen funktionieren wir mehr nach dem Prinzip der „Biotensegrität“. Abstandshalter - bei uns die Knochen – werden durch Spannungselemente - bei uns die Muskeln und Faszien - zu einem elastischen Ganzen zusammengehalten.
Das abgebildete Spielzeug veranschaulicht das Prinzip.
Damit das System seine federnde Elastizität behält, müssen die Spannungselemente aufeinander abgestimmt sein. Ist die Spannung in einem Bereich gestört, so leidet die Elastizität des gesamten Systems. Auf unseren Körper übertragen bedeutet dies: Wir benötigen keine Spannungslosigkeit, sondern die richtige Spannung am richtigen Ort.
Zum Glück müssen wir eine solche optimale Spannungsverteilung in uns nicht bewusst herstellen – das wäre ein komplexes Unterfangen. Tatsächlich können wir dies auch gar nicht. Die Spannungsverteilung wird nämlich durch tiefere Anteile unseres Gehirns automatisch reguliert. Dafür benötigt das Gehirn Informationen, und die erhält es, wenn wir unsere Sinne offen haben und die Schwerkraft, den Boden und die Unterstützung, die wir von dort erhalten, und unsere Umgebung bewusst wahrnehmen.
Kleinkinder leben uns mühelose Bewegung vor
Besonders schön ist diese automatische Regulation bei Kleinkindern zu beobachten, die noch ganz unmittelbar und ohne viel zu denken auf ihre Umwelt reagieren. Sie haben als immerwährende Referenz die Schwerkraft. Erregt dann etwas in ihrer Umwelt ihre Aufmerksamkeit, so stützen sie sich vom Boden ab, um es zu erreichen.
Bei ihnen ist unser „automatisches Bewegungs- und Aufrichtungssystem“ im (Ent-) Spannungsfeld zwischen Schwerkraft und Umwelt noch ungestört wirksam.
Ich denke, also bin ich - ein Mensch mit Rückenschmerzen
Das ist etwas überspitzt ausgedrückt, aber nicht ganz falsch: Bei uns Erwachsenen wird die natürliche mühelose Bewegungsqualität tatsächlich leicht durch Gedanken, Gefühle und Gewohnheiten gestört.
Das können Sie ganz einfach selbst überprüfen.
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf dem Weg zu einem Treffen mit einem guten Freund: Wie fühlt sich das körperlich an? Und nun stellen Sie sich vor, Sie müssen ein unangenehmes Telefongespräch führen. Vermutlich wird Sie bei diesem Gedanken irgendetwas kaum merklich innerlich zusammenziehen. Ähnlich ist es, wenn uns bei der Arbeit der Zeitdruck im Nacken sitzt. Auch das kann zu unbewusster Anspannung führen.
Aktivieren Sie Ihre stabilisierenden Muskeln
Wir besitzen wunderbare Muskeln, die uns ausdauernd stabilisieren können. Allerdings stören die beschriebenen Mini-Spannungen, die wir nur fühlen, wenn wir in uns hineinspüren, das Spannungsgefüge in unserem Körper und damit auch unsere mühelose Aufrichtung.
Als Reaktion nutzen wir dann oft andere, eher für Bewegung vorgesehene Muskeln, um uns aufrecht zu halten. Denn im Gegensatz zu den stabilisierenden Muskeln, die von tieferen Gehirnanteilen reguliert werden, folgen diese Bewegungsmuskeln bereitwilliger unserem willentlichen Kommando. Nur sind sie eben nicht für ausdauernde Haltearbeit vorgesehen. Wer will es ihnen verübeln, wenn sie sich irgendwann beschweren und zunehmend schmerzen?
Das kann in eine Negativ-Spirale münden, wodurch es immer mühevoller würde, aufrecht zu sitzen.
So wechseln Sie in die Positiv-Spirale
Das Zauberwort heißt: Bewusste Aufmerksamkeit. Denn die Muskeln, die uns stabilisieren, benötigen für diese Aufgabe Informationen. Nur wenn sie wissen, wo und wie wir uns im Verhältnis zu Schwerkraft und Raum befinden und bewegen und was wir vorhaben, können sie uns optimal unterstützen.
Bei YouTube gibt es eine bunte Auswahl an so genannten „Body Scans“, und im Kasten unten finden Sie Beispiele für Experimente rund ums Sitzen. Mit beidem können wir lernen, wieder präziser zu spüren und wahrzunehmen und damit unserem Gehirn die Informationen bereitzustellen, die es benötigt.
Allerdings kann es eine Weile dauern bis wir überhaupt merken, dass wir mehr spüren und wahrnehmen. Und solange unser Verstand noch keine Verbesserungen sieht, kann er schnell ungeduldig werden. Dann stempelt er das Ganze voreilig als sinnlos ab und wir geben auf.
Die Chancen, dass Sie dran bleiben und einmal die Früchte Ihres „Tuns“ (das eher ein „Nicht-Tun“ ist) ernten, können Sie durch die Zusammenarbeit mit einem Rolfer® oder Rolf Movement™ Practitioner deutlich steigern.
Rolfer® und Rolf Movement™ Practitioner geben Ihnen Impulse, die Ihr Körper sofort versteht
Und diese Körper- und Bewegungsexperten können noch mehr:
- Sie können das Spannungsmuster in Ihrem Körper direkt mit den Händen beeinflussen. Da sich unsere Haltungsgewohnheiten irgendwann im Gewebe verfestigen, ist eine solche manuelle Herangehensweise oft auch notwendig.
- Sie können Ihnen speziell auf Ihre Situation zugeschnittene Übungen vorschlagen. Es wird Sie motivieren, wenn Sie Ihre neuen Erkenntnisse gleich in Ihren Alltag einbringen können.
- Sie kennen die typischen „Fallen“ und können Sie vor diesen bewahren. Möchte man zu viel zu schnell erreichen, passiert es leicht, dass man aus dem Spüren wieder ins Wollen rutscht. Daran ist nichts verwerflich, doch dann sprechen wir nicht die Gehirnbereiche an, die wir erreichen möchten.
- Sie haben ein geschultes Auge und viel Wissen über Struktur und Funktionsweise unseres Körpers. Häufig kann sich an einer Stelle erst etwas verändern, wenn sich zuvor an einer anderen Stelle etwas verändert hat. Dann braucht es dieses geschulte Auge und Erfahrung, was die beste Strategie ist, um das Gleichgewicht Schritt für Schritt wiederherzustellen.
Wie Mühelosigkeit zur Gewohnheit wird
Unser Körper und unser Geist sind eine Einheit. Mit der Zeit werden sich neue Bewegungsmuster bei Ihnen ausbilden. Dann sind Sie bereits in dem Moment, indem Sie sich eine Aktivität vornehmen, optimal darauf vorbereitet.
Erforschen Sie Ihre Sitzgewohnheiten
So beeinflussen sich Becken und Wirbelsäule gegenseitig
Damit sich die Wirbelsäule mühelos aufrichten kann, muss das Becken leicht nach vorn gekippt sein. Das bewirkt eine gesunde Lendenlordose.
Das Schema mit den 3 Rollen zeigt: Wenn das Becken (unterer Kreis) nach vorn kippt, drehen sich Brust (mittlerer Kreis) und Kopf (oberer Kreis) in die entgegengesetzte Richtung und richten sich auf. Umgekehrt beeinflusst auch der Oberkörper das Becken.
Experimentieren Sie damit, wie Sie auf einem hohen Stuhl oder tiefen Stuhl sitzen. Was macht das mit Ihrem Oberkörper und Ihrem Becken? Auf welchem Stuhl können Sie müheloser aufrecht sitzen?
Eine weitere Frage: Spüren Sie mehr Unterstützung durch eine weichere oder durch eine härtere Sitzfläche? Und welchen Einfluss hat es, wenn die Sitzfläche nach vorn oder hinten abgeschrägt ist oder wenn sie in der Mitte eine Kuhle hat?
Tut Nacken und Schultern gut
Wussten Sie, dass Ihr Handteller zum größten Teil aus den Mittelhandknochen besteht? Diese sind sozusagen eine Verlängerung der Finger. Umfassen und spüren Sie Ihre Computer-Maus nun mit diesen „langen Fingern“. Dies hilft Ihren Schultern und Ihrem Nacken, zu entspannen.
Wie Ihre hinteren Oberschenkelmuskeln Weichheit lernen
Setzen Sie sich auf ein Poolnudelstück. Das ist ähnlich, als würden Sie wie eingangs beschrieben Ihre Hände unter Ihr Gesäß legen. Gleichzeitig können Sie mit der Beckenkippung experimentieren:
Rollen Sie mit Ihren Sitzbeinhöckern über die Poolnudel und halten Sie dabei den Oberkörper aufrecht. Finden Sie die Position, in der Ihre Wirbelsäule optimal unterstützt ist?
Eleganz - ohne jede Mühe
Legen Sie sich hin und wieder ein kleines Sandsäckchen auf den Kopf, während Sie vor dem Computer sitzen. Das Säckchen sollte gut wahrnehmbar aber nicht zu schwer sein. Macht dies etwas mit Ihrer Aufrichtung? Was?
Wechseln Sie des Öfteren zwischen Sitzen, Stehen und erhöhtem Sitzen.
Ein wichtiger Rat zum Schluss
Seien Sie geduldig und nachsichtig mit sich.
Schnell kommen wir in dem Bestreben, aufrecht zu sitzen, aus dem Spüren heraus und wieder ins Wollen.
Wenn Sie es übertreiben, können die neuen Haltungs- und Bewegungsmuster Ihrer Wirbelsäule sogar selbst Schmerzen hervorrufen.
Geben Sie sich daher Zeit.
Viele unserer Gewohnheiten, die heute vielleicht nicht mehr so günstig sind, waren in einer bestimmten Situation sinnvoll. Deshalb muss unser Körper erst erfahren, wie es auch anders gehen kann, bevor er sich überzeugen lässt, bestimmte Bereiche zu entspannen.
Autorin: Copyright ©Text und Zeichnungen: Dr. med. Cirsten Verleger, Certified Advanced Rolfer® und Rolf Movement™ Practitioner, Dortmund
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