Nach einem Artikel von Alan Richardson, Certified Advanced Rolfer® & Rolf Movement™ Practitioner, London, UK
Wie Rolfing® helfen kann, das Nervensystem neu zu kalibrieren
Chronische Schmerzen sind für viele Menschen eine tägliche Herausforderung – oft ohne klare körperliche Ursache. Während akute Schmerzen eine sinnvolle Schutzfunktion darstellen, kann chronischer Schmerz zu einem eigenständigen Zustand werden: Er kann fortbestehen, auch wenn keine Gewebeschädigung mehr vorliegt.
In den letzten Jahrzehnten hat sich unser Verständnis von Schmerz stark gewandelt. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass Schmerz nicht nur durch Gewebeschäden entsteht, sondern ein Produkt des gesamten Nervensystems ist. Dabei spielen Erwartungen, Emotionen und frühere Erfahrungen eine entscheidende Rolle.
Alan Richardson, Certified Advanced Rolfer® und Rolf Movement™ Practitioner, fasst es so zusammen:
Chronischer Schmerz ist eine erlernte Reaktion des neuroplastischen Gehirns und des zentralen Nervensystems, die dazu führt, dass das Schmerzerlebnis lange nach der eigentlichen Verletzung bestehen bleibt.
Richardson vertritt die Ansicht: Wenn das Gehirn Schmerz „lernen“ kann, dann kann es ihn auch wieder „verlernen“. Hier setzt Rolfing® Strukturelle Integration an.
Was ist Schmerz – und warum bleibt er bestehen?
Laut der International Association for the Study of Pain (IASP) ist Schmerz „eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit tatsächlichem oder potenziellem Gewebeschaden verbunden ist oder diesem ähnelt“. Doch warum bleibt Schmerz manchmal bestehen, auch wenn keine Schädigung mehr nachweisbar ist?
Richardson zeigt anhand der modernen Schmerzforschung, dass das Nervensystem überempfindlich werden kann. Dieses Phänomen nennt sich zentrale Sensibilisierung:
- Das Gehirn „überwacht“ den Körper und entscheidet, ob ein Reiz als bedrohlich einzustufen ist.
- Wenn Schmerz chronisch wird, kann das Nervensystem selbst harmlose Signale als Schmerz interpretieren.
- Der Schmerz ist real – aber er entsteht nicht zwingend dort, wo er empfunden wird.
Als berühmtes Beispiel führt Richardson die Geschichte des Neurowissenschaftlers G. Lorimer Moseley auf, der in seiner Jugend oft durchs hohe Gras wanderte. Einmal wurde er von einer hochgiftigen Schlange gebissen – bemerkte den Schmerz aber erst, als ihm die Gefahr bewusst wurde. Jahre später kratzte ihn ein Ast an der gleichen Stelle – und er empfand extreme Schmerzen, obwohl es keine ernsthafte Verletzung gab.
Schmerz ist also kein reines Signal aus dem Gewebe – sondern eine Interpretation des Nervensystems.
Wie kann Rolfing® Strukturelle Integration helfen?
Rolfing Strukturelle Integration arbeitet laut Richardson mit der neuroplastischen Fähigkeit des Körpers, um das Nervensystem neu zu kalibrieren. Dabei kommen verschiedene Ansätze zum Einsatz:
1. Sicherheit und Validierung in der Therapie
Menschen mit chronischen Schmerzen werden oft mit Aussagen konfrontiert wie: „Es ist nichts zu finden“ oder „Der Schmerz ist nur in deinem Kopf“. Dies kann zu Unsicherheit und Angst führen, die den Schmerz verstärken.
Laut Richardson beurteilen Rolfer dies anders:
Chronischer Schmerz ist definitiv real. Wenn keine Gewebeschädigung gefunden wird, bedeutet das nicht, dass der Schmerz eingebildet ist.“
Rolfing bietet eine sichere Umgebung, in der der Schmerz ernst genommen wird. Das allein kann bereits helfen, das Nervensystem zu beruhigen.
2. Schmerz verstehen – Schmerz verändern
Schmerzpädagogik ist ein wichtiger Teil der Behandlung. Das Wissen darüber, wie Schmerz entsteht, kann ihn verringern.
Auf der Plattform Pain Revolution [https://www.painrevolution.org/9] beschreibt eine Langzeitstudie vier essenzielle Fakten über Schmerz:
- Schmerz schützt uns und fördert Heilung.
- Chronischer Schmerz übertreibt diesen Schutzmechanismus und verhindert die Regeneration.
- Viele Faktoren beeinflussen Schmerz – nicht nur Gewebeverletzungen.
- Es gibt viele Möglichkeiten, Schmerz zu reduzieren und Regeneration zu fördern.
Richardson zitiert aus Monty Lymans Buch ‘The Painful Truth’ (2021):
Wenn Menschen mit chronischen Schmerzen ein Gefühl der Kontrolle bekommen, verringert das die Intensität des Schmerzes.
Rolfing kann dabei helfen, diese Kontrolle zurückzugewinnen.
3. Verfeinerung der Körperwahrnehmung („Body Map“) durch Berührung
Das Gehirn bildet eine innere Landkarte des Körpers. Durch chronischen Schmerz kann diese Karte „verschwimmen“ (smudging). Das führt zu:
- unklarer Körperwahrnehmung
- Schon- und Fehlhaltungen
- verstärktem Schmerzempfinden
Rolfing gibt dem Nervensystem durch gezielte Berührung neue Informationen. Diese neue Körperwahrnehmung kann helfen, Schmerz zu reduzieren. Richardson beschreibt es so:
Klienten berichten oft: ‚Wow, ich wusste gar nicht, dass ich dort einen Muskel habe!‘
4. Bewegungen neu entdecken
Viele Menschen mit chronischen Schmerzen meiden bestimmte Bewegungen aus Angst vor Schmerz. Dadurch wird der Körper immer unbeweglicher – und das Schmerzempfinden steigt.
Rolfing Strukturelle Integration verwendet einen sanften, schrittweisen Ansatz, um Überempfindlichkeit zu verringern und Bewegung wieder in den Alltag zu integrieren. So kann das Nervensystem lernen, dass Bewegung sicher ist.
5. „Guter Schmerz“ und Gegenreiz-Technik (Counterirritation)
Tiefer, aber gezielter Druck kann das Nervensystem beruhigen, anstatt es zu alarmieren.
Richardson erklärt:
Wenn der Klient sich sicher fühlt, dem Rolfer vertraut und die positiven Effekte der Behandlung sieht, kann er den tiefen taktilen Druck als ein gutes, wenn auch etwas forderndes Gefühl interpretieren, da ein wichtiger Spannungsbereich im Körper angesprochen wird.
Dies kann helfen, überaktive Schmerzsignale zu dämpfen.
Fazit: Rolfing® Strukturelle Integration als Weg zur Schmerzlinderung
Chronischer Schmerz ist nicht nur ein körperliches Problem, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von Nervensystem, Wahrnehmung und Erfahrung.
Rolfing ist ein ganzheitlicher Ansatz, der über die reine Schmerzbehandlung hinausgeht:
- Er schafft Sicherheit und Anerkennung.
- Er hilft, Schmerz zu verstehen – und dadurch zu verändern.
- Er verbessert die Körperwahrnehmung durch gezielte Berührung.
- Er ermöglicht eine sanfte Wiederannäherung an Bewegung.
- Er unterstützt die Beruhigung des Nervensystems und kann so Schmerzen reduzieren.
Chronische Schmerzen sind eine erlernte Reaktion des Nervensystems, die wieder verlernt werden kann."
– Alan Richardson
Rolfing Strukturelle Integration kann diesen Prozess unterstützen und Menschen helfen, sich wieder freier zu bewegen – ohne Angst vor Schmerz.
Quellen:
Originalartikel: Alan Richardson, Certified Advanced Rolfer™ & Rolf Movement® Practitioner: „Rolfing® Structural Integration and Chronic Pain” in Structure, Function, Integration Journal Dezember 2024
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Zusammenfassung und Bearbeitung: Sabine Becker
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